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Wer kennt es nicht, das Gefühl, allein in einer fremden Großstadt zu sein und dann einsam die Straßen zu durchwandern. Ganz mit sich selbst beschäftigt, die Bilder der Straßen, Schaufenster, Hinterhöfe mit den Bildern der eigenen Erinnerungen, Wünsche und Sehnsüchte zu spiegeln. Sich anregen zu lassen von Erklärungen aus Reiseführern, Geschichtsbüchern, Ausstellungen.

Bis man ganz satt ist von all dem und sich mehr den je wieder die Normalität des Alltages, Freunde, Arbeit, Kommunikation… wünscht und zurückkehrt in das eigene richtige Leben. Diese Gnade einer Rückkehr in das richtige Leben ist dem Protagonisten der Erzählung „Austerlitz“ des Autoren W.G. Sebald verwehrt. Austerlitz, so auch der Name des Protagonisten ist ein Einzelgänger, der seine Umgebung mit wissenschaftlicher Neugier durchdringt, durchleuchtet und durchlebt.

So handelt das Buch denn auch vom Reisen, von Wartesälen, Bahnhofshallen, Zugfahrten, aber auch von Bibliotheken, Friedhöfen, Fabriken, Festungsbauten. Vom Erfassen der Welt nach historischen, ästhetischen, politischen wie auch naturwissenschaftlichen Kriterien. Die Handlung – eine Mischung aus der erzählten Lebensgeschichte des Protagonisten und der Begegnung mit dem Autor, beginnt bezeichnenderweise im Wartesaal der Centraal Station Antwerpen, setzt sich fort mit den Stationen London, der walisischen Provinz, Prag, Teresienstadt, Marienbad und endet in Paris. Schon bald wird klar, dass Austerlitz bei aller Tiefe der Beschäftigung mit Orten, Bezeichnungen und Einordnungen ein großes Thema, nämlich sein ureigenes, seine Herkunft, von der er nichts weiß, umgeht. Es kommt wie es kommen muß, Austerlitz erleidet bei einer seiner immer pathologischer werdenden ausgedehnten Wanderungen durchs nächtliche London einen ganzheitlichen kräftemäßigen Zusammenbruch, als er zufällig die stillgelegte Wartehalle der Liverpool Street Station betritt. Plötzlich beginnt sich hier ein Anklang an eine Erinnerung in ihm zu formieren, der ihn auf die Fährte seiner frühen Kindheit bringt. Liverpool Street Station – hier landete er 1938 mit einem jener Kindertransporte aus Prag, die Kinder jüdischer Herkunft vor der Vernichtung retteten. Langsam tastend, von lang anhaltenden Phasen der Apathie und Schwäche gequält, begibt sich Austerlitz auf die Suche nach dieser frühen Kindheit, von der er bislang nichts wusste und wird in Prag fündig.

„Austerlitz“ liest sich nicht nur wie ein Roman, sondern auch wie eine Studie zum Thema Amnesie. Der Autor trifft den Protagonisten über einen Zeitraum von über 20 Jahren und lässt sich von diesem die Lebensgeschichte abschnittsweise erzählen. Eine Gesamtschau, die das Grundproblem dieses intelligenten und sympathischen aber eben auch schrulligen und selbstbezogenen Mannes, dessen Leben von langanhaltenden psychischen Krisen begleitet wird, in vielen Facetten umkreist. Da ist zunächst die Zeit, in der Austerlitz von seiner Herkunft nichts weiß, dann die Phase der Erkenntnis und schließlich die Aufarbeitung, die Rekonstruktion, das Reisen an die Orte der Kindheit, das Treffen einer nahen Person von damals…Ein Markenzeichen der Literatur Sebalds sind die in den Text eingeflochtenen Schwarzweißfotografien, Grundrisse und Zeichnungen. Diese zeigen im Text aufgeführte Orte, Personen und Sachverhalte und untermauern die Authentizität der Sachverhalte.

Ein Buch, das Lust darauf macht, in den nächsten Zug zu steigen und sich mit Bildern aufzuladen. Ein Buch, das einen aber auch dankbar werden lässt, angesichts der eigenen nachvollziehbaren biografischen Kontinuität. Der Autor W.G. Sebald, selbst ständig auf Reisen und seiner Heimat, einem Dorf in den Österreichischen Alpen fremd geworden, war ein Meister der ironischen Melancholie, der kafkaesken Situation und der Schilderung der Fremde.

Autor: Tom Sehrer